Von Dr. Oliver Tearle
Basiert die Geschichte von Blaubart auf einer realen Person? Vielleicht mehr als jedes andere Märchen wollen wir wissen, ob die schaurige Geschichte des Serien- und Frauenmörders (und vielleicht das Beispiel schlechthin für toxische Männlichkeit in der Kinderliteratur) auf historischen Tatsachen beruht.
Sicher ist, dass das Märchen von Blaubart seit seiner Erstveröffentlichung in Charles Perraults Märchensammlung im Jahr 1697 eine eigentümliche Faszination auf junge und alte Leser ausübt. Als studierte Analyse der schrecklichen Möglichkeiten korrupter Männlichkeit (wie der über-maskuline Beiname der zentralen, mörderischen Figur andeutet), ist „Blaubart“ eines der beliebtesten Märchen überhaupt – wenn auch bei weitem nicht das typischste. Hier gibt es keinen Prinzen und keine Prinzessin, die glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben werden, keinen gütigen Holzfäller, keine böse Stiefmutter.
Blaubart: Zusammenfassung der Handlung
Die Geschichte von Blaubart lässt sich so zusammenfassen: Ein reicher Mann hatte einen blauen Bart, der ihn extrem hässlich machte, so dass die Frauen vor ihm davonliefen. Es war bekannt, dass er schon mehrere Male verheiratet war, aber was aus seinen Frauen geworden war, wusste niemand.
Schließlich gelang es Blaubart, das Herz einer der Töchter seiner Nachbarn zu gewinnen, und sie heirateten und zogen in eines seiner riesigen Häuser. Eines Tages erzählte Blaubart seiner Frau, dass er auf dem Lande etwas zu erledigen habe und für einige Tage weg sein würde. Er vertraute ihr die Schlüssel zu allen Räumen des Hauses an, in denen sich sein Schatz befand. Er sagte ihr, dass es ihr frei stehe, jede der Türen aufzuschließen – mit Ausnahme einer, der Tür zu einem geheimen Schrank im Haus, in den sie nicht hineinschauen dürfe. Sie willigte ein und winkte ihn ab.
Es dauerte nicht lange, bis die Neugier der jungen Frau sie übermannte und sie einen Blick in die verbotene Kammer riskierte. Schließlich würde Blaubart niemals herausfinden, dass sie ihm nicht gehorcht hatte! Sie nahm den Schlüssel zum Schrank, schloss ihn auf und stellte fest, dass der Boden blutverschmiert war und die Leichen der toten Frauen in der Kammer aufbewahrt wurden. Das war es also, was Blaubarts früheren Frauen passiert war!
In ihrem Schock und Schrecken ließ die junge Frau den Schlüssel auf den Boden fallen, und nachdem sie ihn wiedergefunden hatte, verschloss sie die Tür zur Kammer und ging, um den Schlüssel an seinen rechtmäßigen Platz zurückzubringen.
Unglücklicherweise war der Schlüssel nun mit Blut befleckt. Sie machte sich daran, ihn zu reinigen, das Blut vom Schlüssel abzuwischen … aber das Blut kehrte zurück. Jedes Mal, wenn sie den Schlüssel reinigte, blieb das Blut zurück. Sie erzählt ihrer Schwester von dem schrecklichen Geheimnis, das sie entdeckt hat, und sie schmieden einen Plan, um am nächsten Morgen aus dem Schloss zu fliehen.
Aber Blaubart kommt plötzlich zurück, entdeckt den blutigen Schlüssel und droht, seine Frau auf der Stelle zu töten. Blaubarts Frau bittet um ein letztes Gebet, bevor sie und ihre Schwester abgeschlachtet werden, und verschafft sich so genug Zeit, dass ihre Brüder ankommen, sie und ihre Schwester retten und Blaubart töten können.
Blaubarts Frau lässt die toten Frauen formell begraben und erbt Blaubarts Burg. Sie heiratet schließlich wieder und lebt glücklich bis an ihr Lebensende.
Blaubart: Analyse
Der blutige Schlüssel ist das einzige übernatürliche Element in diesem grausigen Märchen, das – wenn es nicht dieses Detail des Blutes enthielte, das selbst dann noch zurückbleibt, wenn es angeblich vom Schlüssel abgewischt wurde – kaum als „Märchen“ zu bezeichnen wäre, sondern eher als eine häusliche Geschichte von ehelicher Gewalt und Mord.
Blaubarts Name, der seinen tiefschwarzen Bart in den Vordergrund stellt (er ist nicht buchstäblich blau, nehmen wir an!), kennzeichnet ihn als eine Figur von überwältigender Männlichkeit, ein „Alphamännchen“, dessen Stärke und Virilität fast übermenschlich sind.
Die Geschichte von Blaubart handelt also auf einer Ebene davon, wie wichtig es ist, Blaubarts toxische Männlichkeit (um den modernen Sprachgebrauch zu verwenden) durch eine fürsorglichere und liebevollere Seite zu mildern. Blaubarts Problem ist, dass er ganz und gar männlich ist und keine der weicheren, sympathischen Eigenschaften hat, die, so scheint die Geschichte zu implizieren, einen guten Ehemann ausmachen. Es ist natürlich auch eine Geschichte, die uns durch die Darstellung von häuslichen Schrecken und Gefahren unterhalten soll.
Hat „Blaubart“ wirklich existiert? Nein, aber die Figur des Märchens könnte einer realen Person nachempfunden worden sein. Es gibt mehrere Kandidaten.
Der Serienmörder Gilles de Rais aus dem 15. Jahrhundert ist ein Kandidat: Ein Ritter, der an der Seite von Jeanne d’Arc in ihren Feldzügen gegen die Engländer kämpfte, wurde ein mächtiger Adliger und eine politische Figur in Frankreich. Aber es gibt ein ziemlich großes Problem: Gilles de Rais hat nie seine Frau ermordet. Er tötete Kinder in erstaunlicher Zahl (und scheint sie vorher sexuell missbraucht zu haben). Es ist möglich, dass seine unaussprechlichen Verbrechen dennoch die Grundlage für die Blaubart-Geschichte waren, wobei die poetische Freiheit seine Kinderopfer stattdessen in Ehefrauen verwandelte, obwohl es alles andere als schlüssig ist, dass dies der Fall war.
Eine andere mögliche Quelle für die Blaubart-Legende ist der bretonische König Conomor der Verfluchte, der Tryphine heiratete, die daraufhin von den Geistern seiner früheren Frauen gewarnt wurde, dass er sie ermordet, sobald sie schwanger werden. Da Tryphine zu diesem Zeitpunkt selbst schwanger ist, flieht sie in Panik aus der Burg, doch Conomor holt sie ein und ermordet sie. Der heilige Gildas erweckt sie jedoch wieder zum Leben, und als er auf seiner Burg mit seiner nun nicht mehr toten Frau konfrontiert wird, stirbt Conomor unter dem Gewicht seiner eigenen einstürzenden Burg.
Conomor war ein echter König, aber es ist, gelinde gesagt, unwahrscheinlich, dass das alles passiert ist. Letztendlich hat die Geschichte von Blaubart vielleicht nicht einen einzigen Ursprung in einer realen Person, sondern ist wahrscheinlich ein Amalgam aus verschiedenen Legenden und Geschichten über frauenmordende Männer.
Der Autor dieses Artikels, Dr. Oliver Tearle, ist Literaturkritiker und Dozent für Englisch an der Universität Loughborough. Er ist u.a. Autor von The Secret Library: A Book-Lovers‘ Journey Through Curiosities of History und The Great War, The Waste Land and the Modernist Long Poem.
Bild: via Wikimedia Commons.