Betrachtet man das Genre, werden schnell bestimmte Assoziationen und kulturelle Kernmerkmale deutlich. Ich würde sie wie folgt auflisten:
- Eine Assoziation mit Gaming & Anime.
- Eine Assoziation mit Geschwindigkeit und Energie.
- Die Aneignung von Arbeit, um sie zu verändern.
- Ein Interesse an Sexualität.
- Ein Interesse an Weiblichkeit.
- Ein Interesse am Tod.
- Ein Interesse an abweichendem Verhalten.
Während die Geschwindigkeit und die Energie in direktem Zusammenhang mit dem technischen Aspekt des Genres stehen, können zwei wichtige kulturelle Aspekte beim Betrachten von Nightcore beobachtet und gehört werden.
Erstens kann man das primäre Nightcore-Publikum durch seine Assoziation mit Gaming, Anime und durch sein naives Interesse an Weiblichkeit und Sexualität als relativ jung einschätzen. Menschen mit Interessen, die in der Allgemeinbevölkerung teilweise noch als Nischeninteressen angesehen werden können. Sie entdecken mit dem Erwachsenwerden neue Dinge über Kunst und Sexualität, verlieren dabei aber auch ihre Unschuld. Es scheint eine universelle Entfremdung in der heutigen Jugend vorhanden zu sein, die wie mit einem eigenen Willen nach einem Gefühl der Flucht sucht. Dies sollte nicht als ein inhärentes Übel angesehen werden, aber völlig unbehandelt führt es zu Menschen, die unfähig sind, sich in dem gegenwärtigen Klima zurechtzufinden, möglicherweise sogar unfähig, es radikal zu verändern. Das ist natürlich eine Diskussion für ein anderes Mal.
Diese Jugendlichen bewahren sich noch eine gewisse Unschuld und produzieren, während sie relativ unbefleckt von der herrschenden Ideologie sind, Kunst, die im Allgemeinen als Derivat angesehen wird, aber (wie ich glaube) einen großen sozialen Wert für die Menschen hat, die sie konsumieren.
Und damit kommen wir zum zweiten Aspekt: Kultur und Inhalte, die von diesem Publikum synthetisiert werden, seine Missachtung des Urheberrechts und des technischen Kerns. In der Einleitung habe ich bei der Beschreibung von Nightcore überhaupt nicht von einem Kerninhalt der Musik gesprochen. Das liegt daran, dass im Grunde jedes Lied, wenn es richtig beschleunigt wird, als Nightcore bezeichnet werden kann. Auf den ersten Blick mag es manchen seltsam erscheinen, wie aus der einfachen Beschleunigung von Musik dann eine solch scheinbar monolithische Kultur entstanden ist. Für mich ist der wahrscheinlichste Schuldige die Verschiebung der Tonhöhe, die selbst bei männlichen Sängern eine naive Weiblichkeit hervorruft. Das hat, als es Emo-Teens und Gamern durch den ersten Nightcore-Song auf Youtube präsentiert wurde, der die oben genannten eskapistischen Merkmale aufwies (ein Song von Evanescence), das Genre zwangsläufig in seine heutige Kultur geführt.
Dieser eskapistische Kern aus Sex, Gewalt, abweichendem Verhalten wird in den Bildern und Songs, die für die Videos ausgewählt wurden, veranschaulicht. Das Ego des Betrachters sucht nach einem Partner, mit dem es fliehen kann, den es absorbieren kann, von dem es sich aber auch absorbieren lassen kann. Dies wird in der Frau von Kern Nightcore weiter veranschaulicht und mystifiziert, einer attraktiven Geschlechtsgenossin, die sowohl stark und gewalttätig als auch stereotyp weiblich und begehrenswert und dennoch extrem sexuell ist. Sie, und damit auch der Betrachter, der mit ihr verschmelzen möchte, ist gleichzeitig Vorbild und Objekt der Begierde. Auch die fragile Heterosexualität kann durch Nightcore nicht beschädigt werden, da die hohen Stimmen der männlichen Sänger auf diese Weise feminisiert werden. Eine Variation dieses Themas ist eine krankhaft-schicke Frau, möglicherweise süchtig oder wahnsinnig. Diese Variante behält gelegentlich noch ein gewisses Selbstbewusstsein und eine gewisse Stärke, setzt aber stärker auf die Frau als Objekt, das es zu schützen gilt.
All dies mag auf den ersten Blick relativ negativ klingen, obwohl ich argumentieren würde, dass der Wunsch, sowohl das zu „nehmen“, was man am Partner begehrt, als auch das zu „geben“, was man besser machen kann, bei weitem nicht die schlechteste Art von Beziehung ist – es ist sicherlich etwas einseitig, selbst für parasoziale Standards -, würde ich dennoch argumentieren, dass diese Reaktion auf Entfremdung durch eine Flucht zu Hingabe eine naive, aber bewundernswerte ist. Mit Hingabe meine ich die Bereitschaft des Zuschauers, nicht nur sein normales Leben aufzugeben, um Problemen zu entkommen und Aufregung zu finden, sondern auf einer phänomenalen Ebene sich selbst. Der Zuschauer will sich selbst verändern, während er sich in diesem phantastischen Abenteuer der Gefahr aussetzt und möglicherweise nicht nur sich selbst aufgibt, sondern ein ganzes Wesen der Welt. Diese romantische Interpretation von Nightcore erinnert zumindest an A. Schopenhauers Beschreibung des vollsten Zustands des Erhabenen
„Vergnügen aus der Erkenntnis der Nichtigkeit des Betrachters und des Einsseins mit der Natur“
obwohl er die Natur durch das (zugegebenermaßen etwas ‚orientalische‘) weibliche Andere ersetzt.
Am Anfang dieses kurzen Stücks habe ich den Song „We Appreciate Power“ und seinen offiziellen Nightcore-Remix erwähnt. An dieser Stelle möchte ich dafür argumentieren, dass die Verwendung von Nightcore die Bedeutung des Textes verbessert. Textlich ist nicht zu bestreiten, dass er das Thema Mind Uploading stark nutzt. Ein umstrittenes Thema in vielen Bereichen der Philosophie, von der Ontologie bis zur Phänomenologie, da es die Grenzen zwischen Leben und Maschine und die bereits verschwommene Grenze zwischen Individuen verwischt. Ähnlich wie Nightcore verwischt Grimes die Grenze zwischen dem mystischen Ego des Betrachters und dem der „Nightcore Woman“, indem er Hingabe als Schlüsselwerkzeug einsetzt. Grimes macht sich den kulturellen Hintergrund von Nightcore zu eigen, um einen Song zu veredeln, in dem es sehr stark um das Internet und Menschen geht, ohne dass der Song textlich in die typischen Genre-Fallen fällt, nicht übermäßig sexuell, nicht einmal inhärent gewalttätig. Es bereichert ihre Diskografie, ohne selbst rein derivativ zu sein.